Experten: Versorgungsunterschiede regional stärker unter die Lupe nehmen

Angesichts weiter bestehender Unterschiede in der Gesundheitsversorgung plädieren IGES-Experten für den verstärkten Einsatz regionalisierter Qualitätsindikatoren. So genannte „area-Indikatoren“ können helfen zu analysieren, warum die OP-Häufigkeit in einigen Kreisen Deutschlands bei bestimmten Erkrankungen acht Mal höher als anderenorts liegt.

Berlin, 4. Oktober 2014 (IGES Institut) - Diese gravierenden Unterschiede um den Faktor Acht bei der Inanspruchnahme operativer Eingriffe hatten Wissenschaftler des IGES Instituts für die Entfernung der Gaumenmandeln bei Kindern und Jugendlichen, aber auch für Blinddarm- und Prostataentfernungen oder Implantationen eines Defibrillators ermittelt.

  Die Untersuchungen entstanden im Auftrag der Bertelsmann Stiftung für den „Faktencheck Gesundheit“. Sie bestätigen vorausgegangene Analysen aus dem Jahr 2011 sowie der OECD, wie auf einer gemeinsamen, von OECD und Bertelsmann Stiftung ausgerichteten Konferenz im September bekannt wurde. Mit dem „Faktencheck Gesundheit“ will die Bertelsmann Stiftung im Rahmen ihrer Initiative für gute Gesundheitsversorgung (INIgG) über Hintergründe der Gesundheitsversorgung in Deutschland informieren.

Regionale Unterschiede und Muster bleiben bestehen

Für die Aktualisierung des „Faktencheck Gesundheit“ werteten die IGES-Forscher für jedes der Jahre 2007 bis 2012 etwa eine Million Operationen aus den verschiedensten medizinischen Fachgebieten aus Die ermittelten standardisierten Operationshäufigkeiten können über mehrere Jahre und zwischen den 402 einzelnen Kreisen / kreisfreien Städten Deutschlands verglichen werden.

  Das Ausmaß der regionalen Unterschiede der OP-Häufigkeit fällt auch zwischen 2010 und 2012 sehr groß aus. Und sogar über den gesamten Zeitraum seit 2007 zeigen sich keine wesentlichen Veränderungen. Erstmalig konnten die Experten zudem zeigen, dass regionale Muster besonders hoher oder geringer OP-Häufigkeiten über die Zeit bestehen bleiben. So waren beispielsweise 50 der etwa 70 Kreise mit einer deutlich überdurchschnittlichen Zahl von Gaumenmandelentfernungen bei Kindern und Jugendlichen sowohl im Zeitraum 2007 bis 2009 als auch 2010 bis 2012 auffällig.

  Auch unter den 5 Prozent aller Kreise mit der höchsten oder der geringsten OP-Häufigkeit gab es im Zeitverlauf kaum Veränderungen. So finden sich etwa bei der Kaiserschnittrate (Minimalwert: 17,5 %, Maximalwert: 51,5 %) jeweils 16 Kreise sowohl im Zeitraum 2007 bis 2009 als auch 2010 bis 2012 unter den 20 Kreisen mit der geringsten bzw. höchsten Rate.

Angebot beeinflusst Inanspruchnahme

Rein medizinisch sind die beobachteten Variationen und die Stabilität auffällig hoher oder geringer regionaler OP-Häufigkeiten nicht zu erklären. Die Bedeutung versorgungstruktureller Aspekte wurde in den letzten Jahren in mehreren von IGES erstellten, themenspezifischen Faktenchecks belegt. So erfolgen die Gaumenmandelentfernungen bei Kinder und Jugendlichen am seltensten in jenen Kreisen, in denen es keine eigene HNO-Fachabteilung (mehr) gibt. Hingegen ist die Operationsrate in den Kreisen erhöht, in denen der Versorgungsanteil von HNO-Belegabteilungen hoch ausfällt oder in denen große HNO-Fachabteilungen an der Versorgung beteiligt sind. Geburten erfolgen in Belegabteilungen deutlich häufiger durch Kaiserschnitt als in Hauptfachabteilungen. Die Belegarztstrukturen erklären etwa 9 Prozent der Unterschiede bei den regionalen Kaiserschnittraten.

Entwicklung medizinische Leitlinien forcieren

In der Diskussion der Ursachen verschiedener OP-Häufigkeiten fällt auf, dass bei mehreren der untersuchten Indikationen Leitlinien überarbeitet oder noch entwickelt werden. Als Folge bleibt die externe Qualitätssicherung der Krankenhäuser bei der Bewertung der krankenhausspezifischen Qualität der Indikationsstellung über längere Zeit ausgesetzt (bei Gebärmutter- oder Gallenblasenentfernung) und Auffälligkeiten wird nicht mehr nachgegangen. Die Beobachtung der regionalen OP-Häufigkeit könnte diese Lücken zumindest partiell füllen.

area-Indikatoren als Basis für den Qualitätsdialog

Bislang kommen die veröffentlichten regionalisierten Analysen von OP-Häufigkeiten allerdings weder auf der Systemebene oder in besonders auffälligen Regionen noch kaum für Qualitätssicherungsaktivitäten zum Einsatz. Die OP-Häufigkeit selbst aber auch weitere bspw. nach Altersgruppen oder OP-Indikationen differenzierte Kennzahlen können als „area-Indikatoren“ verwendet werden. Exemplarisch wurde von IGES ein umfassendes Set von „area-Indikatoren“ im Regionaldatenblatt Gaumenmandelentfernung für die Bertelsmann Stiftung realisiert. Auf dieser Grundlage sollten systematische Prozesse entwickelt und erprobt werden, die in auffälligen Regionen eine populationsbezogene und sektorübergreifende Auseinandersetzung mit Fragen der Patienteninformation und -steuerung, der Indikationsstellung und Inanspruchnahme von Versorgungsleistungen initiieren, so die IGES-Experten.